Aber

Yet another fucking opportunity to grow.

A redditor

Zweieinhalb Jahre ohne Beziehung. Ohne Date. Ohne Dating App. Zweieinhalb Jahre allein, zweieinhalb Jahre mit mir selbst. Ein Jahr ohne Social Media. Auf dem Weg, mich selbst kennenzulernen, mich zu finden, mich selbst zu verstehen, Verantwortung zu übernehmen, mir zu verzeihen, mich selbst (aus-)zu halten. Wachsen, heilen, bereuen, loslassen, festhalten, vermissen.

Guten Tag, mein Name ist Björn und ich war Narzisst. Nun ja. War. Bin. Ich weiß es nicht. Und irgendwie ist es auch egal.

Ich werde niemals keinerlei narzisstische Impulse und Züge haben. Sie gehören zur menschlichen Grundausstattung. Manche sind gesund, andere nicht. Ich habe gelernt, meine Impulse zu erkennen, zu verstehen, zu akzeptieren, werde besser darin, mit ihnen umzugehen, ihnen mit meinen eigenen Mitteln entgegenzuwirken, mit ihnen zu leben und sie nicht mein Leben bestimmen zu lassen. Ich habe die Kontrolle übernommen. Besonders über die Impulse, die auf meinem geringen Selbstwert basieren, die ich jahrzehntelang unbewusst mit mir herumgeschleppt habe und mit denen ich andere Menschen und mich selbst verletzt habe. Ich leide, meinen Selbstwert abgesehen, nicht mehr darunter. Ich füge keinen anderen Menschen damit mehr Leid zu. Ich bin ein besserer Mensch geworden. Mir geht es gut.

I love when I realize I’m handling a situation better than my old self would have.

Dahlia Blell

Aber.

Es ist nicht alles Sonnenschein, es ist fast jeden Tag aufs Neue schwer, es ist komplex, es ist kompliziert, es ist beschwerlich.

Reflexion vs. Overthinking

Your mental illness is not your fault, but it is your responsibility.

Marcus Parks

Meine Entwicklung der letzten vier Jahre hätte ich nicht ohne meine Therapie geschafft. Best decision ever. Durch sie habe ich gelernt, mich selbst wahrzunehmen, mir selbst bewusst zu sein, mir selbst das Gefühl zu geben, etwas wert zu sein. In Folge dessen hat sich mein Leben mit mir selbst komplett gewandelt. Bis vor wenigen Jahren lief ich ohne echte Selbstbeherrschung, ohne Eigenverantwortung und ohne Selbststeuerung durchs Leben. Nun nehmen Selbstreflexion und das Erlernen von Selbstführung einen größeren Teil meines Lebens ein als Schlafen. Es gibt kaum Gedanken, Gefühle, Momente, Erinnerungen, Beobachtungen und Interaktionen, die ich nicht hinterfrage, analysiere, durch die Augen Anderer und mit Ambivalenz betrachte. Das ist gut. Das ist Wachstum. Das ist Entwicklung. Aber. Das ist auch fucking anstrengend. Und oftmals zu viel des Guten.

Ich habe erkannt und verstanden, aber mir nicht verziehen, wer ich war und was ich warum getan habe. Ich gehe bis heute hart mit mir ins Gericht, bin oft unnachgiebig und unversöhnlich mit mir selbst. Es fällt mir schwer, mir und meinem Vergangenheits-Ich gegenüber wohlwollend, nachsichtig und verständnisvoll zu sein. Das nimmt mir die Leichtigkeit im Leben, Mühelosigkeit, instinktives Handeln, Unbeschwertheit.

If someone talked to you the way you do to you, I’d put their teeth through – Love yourself!

IDLES “Television”

Im vergangenen Jahr haben wir, meine Therapeutin und ich, darum gemeinsam entschieden, die Therapie rund um meinen Narzissmus zu beenden. Gleichzeitig haben wir beschlossen, mit einem neu definierten Fokus weiterzumachen: Weg vom Narzissmus, hin zur Nachsicht, zu einer eigenen Identität, zum Finden von Selbstwert, zu einer echten Selbstsicherheit, zum Zulassen echter emotionaler Verbindungen (mit mir selbst und anderen), zu einer neuen Leichtigkeit – und zum Loslassen können.

Routine vs. Rigidität

Ich versuche für mich da zu sein. Ich suche mir Aktivitäten und Momente, die mir Freude bringen und meine Zeit füllen. Es ist immer seltener Aktionismus und immer häufiger das tatsächliche Interesse, Quality Time mit mir selbst zu verbringen. Mein Alltag ist eine Abfolge von Routinen und Terminen. Alles steht in meinem Kalender, er ist der Anker. Er sagt mir, wann ich Sport mache, wann ich ins Kino gehe, wann ich meine Spotify-Playlists kuratiere, wann ich auf Konzerte gehe, wann ich Serien gucke, wann ich Freund:innen treffe, wann ich in eine Ausstellung gehe, wann ich lese. Leerläufe versuche ich möglichst zu vermeiden. Leerläufe führen dazu, dass ich mich schnell leer fühle. Wenn ich mich leer fühle, steigen Impulse in mir auf, diese Leere zu füllen, diese Lücken zu stopfen. Buchstäblich.

Über allem steht der Sport. An drei, vier, manchmal fünf Tagen in der Woche treibe ich Sport – allein, in Kursen oder mit Freunden. Mittwoch, Donnerstag, Samstag, Sonntag, manchmal auch Dienstag und Freitag. Meine Laufschuhe kommen seit ein paar Jahren immer mit, wenn ich verreise. Ostsee, Nordsee, München, Lüneburg, Prignitz, egal. Lange Zeit habe ich täglich Sport getrieben, manchmal sogar zweimal am Tag. Es hat mir gut getan, es hat meine Zeit gefüllt, es hat meinen Körper gut aussehen lassen. Bis mir mein Körper durch mehrere Überlastungs-Verletzungen mitgeteilt hat, dass ich es übertreibe, dass ich zu rigide bin, dass ich Pausen brauche. Seitdem nehme ich immer mehr Rücksicht auf meinen Körper und lerne dabei gleichzeitig, Nachsicht zu haben, wenn ich weniger Sport treibe, als ich mir eigentlich vorgenommen hatte.

Neben dem Sport ist das Kino eine große Konstante. Kino gibt mir einen Grund, das Haus zu verlassen, es ist ein Zufluchtsort – manchmal dreimal im Monat, manchmal viermal in einer Woche. Es lässt mich ein paar Stunden lang das Leben und das Smartphone vergessen. Es lässt mich in Figuren hineinversetzen und in Geschichten eintauchen. Es lässt mich an der Erinnerung festhalten, wie meine Kinoleidenschaft begonnen hat. Es war anfangs nicht leicht, aber allein ins Kino zu gehen, tut kaum noch weh. Den Platz neben mir halte ich trotzdem immer frei.

Es war anfangs nicht leicht, aber allein auf Konzerte zu gehen, tut kaum noch weh. Musik war schon immer ein wichtiger Teil meines Lebens. Sie durfte mich berühren, ohne dass ich vor zu viel Nähe und Angreifbarkeit Angst bekam. Weil es mir schon immer schwer fiel, Gefühle und Ängste zuzulassen, geschweige denn in Worte zu fassen, war Musik meine Ablenkung, meine Zuflucht und mein Ausdrucksmittel. I want something good to die for – To make it beautiful to live.
Zwischen 15 und 20 Mal pro Jahr bin ich auf Konzerten. Vor kurzem bin ich sogar das erste Mal in meinem Leben für ein Konzert ins Ausland gefahren. Die wenigen Konzerte, die ich gemeinsam mit Freund:innen besuche, fühlen sich lebendiger und verbindender an. Aber auch allein kann ich Konzerte mittlerweile mehr und mehr genießen und ich fühle mich zwischen den Paaren und Freundesgruppen immer seltener einsam. Auch wenn ich mich immer an der Erinnerung festhalte, wie meine Konzertleidenschaft begonnen hat

Aber.

In schlechten Momenten rede ich mir ein, dass auch nur die geringste Abweichung vom Weg, den ich mir vorgezeichnet habe, dazu führen wird, dass alles zusammenbricht. Dass mich das Auslassen des Sonntagslaufes im Park aus der Bahn wirft. Dass ich, wenn ich mein Bedürfnis nach körperlicher Nähe, Geborgenheit und Sex erfülle, automatisch in mein altes Ich verfalle. Dass ich wieder zu dem Menschen werde, der ich nicht mehr sein möchte. Im nächsten Moment erkenne ich dann meist, woher diese Gedanken kommen, erkenne die Gefühle dahinter, lasse sie zu und finde zurück zu mir. Das klappt leider nicht immer. Kommen schlechte Momente und Leerläufe zusammen und ich kann mich nicht komplett selbst halten, meist abends, immer allein, stopfe ich zu oft impulsiv Essen in mich hinein. Ein Abendessen, das für zwei reicht. Ein halber Liter Eis. Eine Tüte Knusperflocken. Eine Tüte Fruchtgummis. Eine Packung Kekse. Irgendwas in mich reinstopfen, um die Leere zu füllen. Meine Therapeutin sagte dazu mal: “Immerhin nehmen Sie keine Drogen und trinken keinen Alkohol. Und Sie benutzen auch nicht mehr wahllos Frauen für bedeutungslosen Sex, während Sie gleichzeitig Ihre Partnerin betrügen.” Immerhin.

Eine Restangst, dass ich wieder in alte Muster verfallen könnte, egal wie unbegründet sie ist, egal wie weit ich gekommen bin, verbleibt immer. Diese Restangst führt dazu, dass ich jeder Abweichung von meiner rigiden Struktur und jedem Impuls, den ich nicht vollständig kontrolliert bekomme, große Aufmerksamkeit schenke und ihnen großes Gewicht einräume. Ich tue (oder lasse) nichts, ohne das Warum zu hinterfragen und meine Gefühle zu analysieren. Und jede neue Erkenntnis über mich führt mich unweigerlich zur Frage “Warum hast du das nicht schon vor Jahren gesehen und verstanden?”. Bei jeder neuen positiven Entwicklung begleitet mich ständig die Frage “Warum hast du das nicht schon vor Jahren getan?”. Es ist das komplette Gegenteil dessen, wie ich mein bisheriges Leben gelebt habe. Es ist alles in allem ein gesünderes Leben, ein bewussteres, ein besseres. Aber. Es ist mühsam, es ist erschöpfend.

Offenheit vs. Selbstschutz

It was always about me, I never had a real coupling. It was always performative and it was always this validation trip.

Shia LaBeouf

In mir steckt eine tiefe Angst, dass ich für Menschen, die ich mag und die mir wichtig bin, nicht im gleichen Maße bedeutend und wertvoll bin. “Aus den Augen, aus dem Sinn”: Steht eine Person nicht aktiv mit mir in Kontakt, denkt die Person nicht an mich, bin ich vergessen, spiele ich keine Rolle in ihrem Leben. Das dachte ich mein ganzes Leben – und denke ich bis heute zu oft. Noch heute habe ich Angst davor, dass Menschen, die ich mehr als nur beiläufig kenne, vergessen wie ich heiße. Die Angst vor Zurückweisung sitzt tief. Darum ist es für mich so schwer, Verbindungen mit anderen Personen zuzulassen. Ich lasse die Angst aber immer seltener gewinnen. Sie wird wohl nie komplett weggehen, aber es wird besser. Ich erkenne, dass mich Menschen für die Person mögen, die ich bin. Ich verstehe besser, dass Menschen mich wertschätzen, auch wenn wir gerade nicht miteinander sprechen und Zeit miteinander verbringen. Ich nehme es an, wenn mir Menschen sagen, dass sie mich schätzen, dass sie mich gern haben.

Trotz der Angst, dass ich für Menschen nicht so wertvoll bin wie sie für mich, bemühe ich mich aktiv, Verbindungen aufrechtzuerhalten. Ich warte nicht mehr nur darauf, von anderen kontaktiert zu werden, sondern ich strecke selbst die Hand aus. Ich gehe auf Menschen zu, ich interessiere mich für sie, ich öffne mich ihnen. Anders als früher stelle ich meine Bedürfnisse auch nicht mehr über andere. Ich bin für Andere da, ich verbringe Zeit mit ihnen und zeige, dass ich sie mag und wertschätze. Ich versuche ein guter Mensch zu sein, selbstlos, ehrlich, unterstützend, vertrauensvoll, verlässlich. Ich höre ihnen zu, wenn sie etwas loswerden möchten. Ich sage ihnen meine Meinung, wenn sie sie hören wollen. Ich helfe ihnen aktiv, wenn sie Hilfe benötigen. Ich versuche ihnen gegenüber die richtigen Worte und Taten zu finden – in Momenten der größtmöglichen Trauer, in Zeiten von Angst und Not, im Alltag. Ich lerne, ein guter Freund zu sein, der ohne direkte Erwartung auf Reziprozität Zuneigung, Zeit, Vertrauen und Unterstützung geben möchte. Die Zuneigung und Unterstützung bekomme ich automatisch zurück. Sei es durch ein einfaches “Hey, wie geht’s dir heute?”, die Bereitschaft, mich nachts nach meinem Unfall aus einem eine Stunde entfernten Krankenhaus abzuholen oder mich vor der Preisverleihung bei der Wahl des Outfits zu beraten.

Ich gehe auch komplett anders mit zwischenmenschlichen Konflikten und Kritik um – ganz besonders im Vergleich mit meinen vergangenen romantischen Beziehungen. Mich als Partner zu haben und mit mir über einen Beziehungskonflikt zu reden, war für meine früheren Partnerinnen wie mit einer Wand zu sprechen. Es war quasi nicht möglich, mit mir zielgerichtet zu diskutieren, wenn es darum ging, konstruktive Kritik an mir und meinem Verhalten zu üben, Meinungsverschiedenheiten und andere Konfliktsituationen aufzulösen. Ich habe mich instinktiv in mich selbst verkrochen, mich verschanzt, eine Mauer aufgebaut. Ich war nicht in der Lage, gesund mit solchen Situationen umzugehen. Es war eine Qual für mich, etwas, das ich unbewusst aus Selbstschutz nicht an mich heranlassen konnte, weil es mein geringes Selbstwertgefühl noch weiter angegriffen hätte. Und es war eine Qual für meine Partnerinnen, keine Chance zu bekommen, erwachsen miteinander zu reden, Standpunkte auszutauschen, sich gegenseitig besser zu verstehen, sich in den Gegenüber hineinzuversetzen und gemeinsam – als Team – zu einer Lösung zu kommen. Stattdessen war ich entweder hart und stumm wie ein Stein oder habe Gaslighting betrieben, um nichts an mich herankommen zu lassen.

“For the past year I’ve busted my fucking arse trying to change. But apparently I haven’t done fucking shit cause I’m still me.”
“Wait, did you want to be someone else?”
“Yeah, someone better —- Can people change?” […]
“Human beings are never going to be perfect, Roy. The best we can do is to keep asking for help and accepting it when you can. And if you keep on doing that, you’ll always be moving towards better.”

Roy Kent, Ted Lasso, Leslie Higgins

Solche Gespräche fallen mir bis heute alles andere als leicht. Ich spüre in solchen Momenten, wie sich mein Brustkorb verengt, mir warm wird und eine Art Fluchtreflex in mir hochkommt. Mein Gehirn versucht sich abzulenken, meist, indem es Musik in meinem Kopf spielt. Aber ich lasse es nicht mehr zu, den leichten Ausweg zu wählen, mich abzukoppeln, unangreifbar und unnahbar zu stellen. Ich gebe mir große Mühe, höre aktiv zu, versuche den Standpunkt und die Perspektive meines Gegenübers zu verstehen, versetze mich in ihre Lage, gehe darauf ein, lenke nicht ab, rechtfertige Fehlverhalten nicht. Ich übernehme Verantwortung für das, was ich getan oder nicht getan habe, in den vielen Jahren, in denen ich es nicht besser wusste. Das tut meistens ziemlich weh. Das ist jedes Mal sehr anstrengend für mich. Doch es funktioniert. Gemeinsam mit einer meiner ehemaligen Partnerinnen habe ich in den vergangenen Monaten mehrfach lang und intensiv über unsere Vergangenheit gesprochen – während unserer Beziehung und die Jahre seitdem. Über Dinge, die gesagt wurden, über Gründe für Entscheidungen, über Hintergründe, über Fehler, über Vernachlässigungen, über Prioritäten, über Gemeinsamkeiten. Über unsere gemeinsamen Kinder, unsere unfassbar wundervollen, starken, mutigen, resilienten, einzigartigen, viel zu erwachsenen Kinder. Über eine neue Basis für eine freundschaftliche Beziehung mit besserer Kommunikation, Offenheit, Vertrauen, gegenseitiger Unterstützung und Herzlichkeit. Sie hat mir Verständnis, Empathie, Interesse und Nachsicht entgegengebracht. Ich konnte sie dabei unterstützen, sich selbst aus großer Not zu retten. Ich habe dabei viel gelernt, über mich, über sie, über meine Kinder. Ich bin heute ein so viel besserer Vater und Freund als noch vor einem oder zwei Jahren. Und das wäre nicht möglich gewesen, hätte ich nicht gelernt und mich getraut, für mich schwierige, oft mit eigener Schuld behaftete Konflikte, mit Offenheit, Ehrlichkeit, Empathie und Verantwortung anzugehen.

It’s called empathy, you dusty, old fart.

Jamie Tartt

Ich habe immer empathisch auf Menschen gewirkt, besonders auf diejenigen, die nicht mit mir in einer Partnerschaft waren. Ich habe nie aus Boshaftigkeit oder Niedertracht jemandem etwas vorgespielt. Aber das, was als Empathie rüberkam, war gelerntes Verhalten, es ging unbewusst von meinem Kopf aus und nicht vom Herzen – aus Selbstschutz und Angst vor Zurückweisung, wenn ich mich emotional öffne. Mittlerweile – ich habe selbst nicht wirklich daran geglaubt – komme ich, ganz viel mit Hilfe der Therapie, tatsächlich dorthin: Die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen, sie zu verstehen, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und versuchen nachzufühlen.

Das Zulassen von Intimität und einer echten zwischenmenschlichen Verbindung ist für mich nach wie vor herausfordernd. Ein Beispiel: In intimen Momenten, sei es in der Therapie oder während eines vertrauten, persönlichen Gesprächs, fällt es mir schwer, Augenkontakt zu halten. Je länger der Augenkontakt, je mehr Nähe und Verbindung sich durch den Augenkontakt entwickelt, desto ungeschützter fühle ich mich, desto schwerer wird es für mich, es auszuhalten – den Augenkontakt zu halten. Es ist ziemlich perplex: Mir unbekannte Menschen, mit denen ich im Alltag in eine Konfliktsituation gerate, kann ich problemlos über lange Zeit tief in die Augen schauen, um Stärke, Überlegenheit und manchmal auch Gefahr auszustrahlen. Aber beim Gegenteil, wenn es um Intimität, Offenheit, tiefe Verbindungen und Vertrauen geht, löse ich aus Selbstschutz meist nach wenigen Sekunden den Blick, weil es mir zu intensiv, zu nah und zu “gefährlich” wird. Aber ich übe es weiter.

Innen vs. Außen

Love Won’t Make You Happy – The trick is finding happiness before you find love.

Joe Donan

Dazu gehört auch, dass ich übe, präsenter in den Momenten zu sein. Ähnlich wie beim Augenkontakt, konnte ich schöne Augenblicke und bedeutungsvolle (partnerschaftliche) Momente viel zu selten wirklich an mich heranlassen, weil ich unbewusst aus Selbstschutz verhindert habe, mich dem Augenblick zu öffnen, eine Verbindung zuzulassen, keine Angst vor Zurückweisung und Schwäche zu haben. Bis heute drifte ich regelmäßig in schönen Momenten automatisch ins Außen ab, statt mit mir selbst zu sein und mir zu erlauben, eine emotionale Verbindung mit mir selbst aufzubauen. Dann stehe ich also zum Beispiel nach der anstrengendsten Wanderung meines Lebens auf einem Gipfel über den Wolken und mein erster Gedanke ist, dass dieser Moment mit meinem Menschen schöner wäre – und vergesse dabei, dass dieser Moment vielleicht, unter Umständen, möglicherweise, eventuell nur für mich selbst auch ein schöner ist.

Im Frühjahr war ich allein im Urlaub – das erste Mal in meinem Leben. Ich war in meinem Leben hunderte Male beruflich allein unterwegs, meist mit Übernachtungen. Noch nie war ich privat mehr als eins, zwei Tage allein unterwegs. Ein Urlaub allein hat mir Angst gemacht. Ich wäre auf mich allein gestellt. Allein mit mir, meinen Gedanken. Ich müsste alles allein planen, wäre allein verantwortlich für meine Aktivitäten, Erlebnisse, Ausflüge. Ich müsste tagsüber allein wandern oder Ausflüge machen, allein Auto fahren, abends allein essen gehen, allein im Hotel sitzen, morgens allein frühstücken. Über viele Monate hinweg, in denen ich mich nicht getraut habe, den Schritt zu machen, haben mich Freund:innen dazu ermutigt, es zu wagen, von ihren Erlebnissen erzählt und mir Mut zugesprochen. Eines Nachts, eine liebe Freundin hatte mir gerade geschrieben “Raff Dich auf und mach!”, habe ich mich überwunden, mir keine weitere Ausrede gelten lassen und gebucht. Vier Wochen später stand ich morgens um fünf am Flughafen, müde, unsicher, der Platz neben mir leer.

Ich bin über den Wolken, an Steilküsten, über vernebelte Hochebenen und durch dichte Wälder gewandert. Ich habe mich in Canyons und Wasserfällen abgeseilt. Ich war ein paar Minuten lang verknallt. Ich konnte im Ozean von einem Holzschiff aus kleinen Walen und Delphinen in die Augen schauen. Ich bin in einem Natural Pool geschwommen. Ich habe einige der schönsten Fotos meines Lebens gemacht.

Aber.

Die Gedanken und Gefühle, das Abdriften ins Außen, waren unweigerlich da. “Mit ihr wäre es noch schöner.” “Sie würde es hier lieben.” “Ich würde es gern mit ihr teilen.” Anders als befürchtet, konnte ich die Zeit und alle Erlebnisse und Eindrücke jedoch auch allein genießen, stolz auf mich selbst sein, dass ich mehrfach über meinen Schatten gesprungen und meine Komfortzone verlassen habe. Ich konnte einige Male wirklich präsent in den Momenten sein, in mich gehen und genießen. Ich hatte zufriedene, vielleicht sogar kurze Glücksmomente, und sie waren nicht abhängig von jemandem anderen, sie waren meine Momente. Und zum Teilen des Rests hatte ich Freund:innen und Familie. Es war der erste und beste Urlaub, den ich jemals allein gemacht habe.

Sich verzeihen vs. Absolution

What Is Grief, If Not Love Persevering.

Vision

Bis heute hält ein kleiner Teil in mir die Illusion aufrecht, die Kontrolle über die beendete Beziehung zu haben. Dieser kleine Teil bildet sich ein, dass es nur an mir liegt und ich nur das “Richtige” tun müsse, um die Person, die ich liebe, zurück in mein Leben zu bekommen. Ich hoffe weiter. Jeden einzelnen Tag. Ich kann nicht loslassen. Ich möchte nicht loslassen. Denn loslassen bedeutet trauern und trauern fühlt sich für mich an wie aufgeben und aufgeben fühlt sich für mich an wie entlieben.

Solange ich nicht loslassen kann, werde ich mir selbst auch nicht verzeihen können. In meinem Kopf würde es die Schwere meiner Schuld relativieren, würde ich mir selbst verzeihen für das Leid, das ich ihr angetan habe. Indem ich mich weiter selbst verurteile und bestrafe, mache ich es mir selbst schwer, die Vergangenheit als solche zu akzeptieren. Dabei weiß ich: Ich kann mir noch so viele Selbstvorwürfe machen – die Vergangenheit kann ich nicht ändern. Ich kann nichts ungeschehen machen, auch wenn mir jeden Tag neue Szenarien durch den Kopf gehen, in denen ich zu einem anderen Zeitpunkt in die Vergangenheit reisen und mit meinem Wissen von heute so vieles anders machen würde.

Niemand ist dafür zuständig, mir irgendetwas zu verzeihen, außer ich selbst. Ich muss lernen, meinem früheren Ich zu verzeihen. Ich war die Person, die ich war, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste. Ich wusste es nicht besser, wie ich mit meinen inneren Notfällen umgehen kann, wie ich mich selbst anders schützen kann. Ich verstehe es heute, auf einer logischen Ebene. Mir ist auch bewusst, dass ich ohne diese Vergangenheit nicht all das über mich gelernt hätte. Auf emotionaler Ebene bin ich aber nicht bereit, es wirklich zu akzeptieren und nachgiebig mit mir selbst und meinem früheren Ich zu sein.

Kopf vs. Herz

Ungefähr jedes “Aber”, jede Ambivalenz, die sich durch mein Leben zieht und die ich in diesem Text aufgeschrieben habe, ist zurückzuführen auf meinen Kopf, meine innere Stimme. Sie möchte Zweifel sähen, die Schutzmauern wieder aufbauen, den einfachen Weg gehen, mein Selbstvertrauen schwächen, die Oberhand gegen mein Herz und meine Gefühle behalten. Mein Kopf ist verantwortlich für die fehlende Leichtigkeit in meinem Leben, die Mühseligkeit, die Anstrengung und meine Angst, vielleicht doch wieder in alte Muster zurückfallen zu können. Und auch wenn ich mir selbst regelmäßig sage, dass ich stark genug bin, dass mein neues Grundgerüst zu stabil ist, dass ich zu weit gekommen bin, um jemals rückfällig zu werden, bleibt mein Kopf trotzdem immer präsent.

Vor kurzem sagte meine Therapeutin am Ende der Sitzung zu mir: “Jede potentielle neue Partnerin kann sich glücklich schätzen, Sie kennenzulernen.” Die Wucht und Bedeutung dieser Aussage habe ich erst einige Tage später richtig erfasst. Sie ist nicht meine Oma, die mir sagt, wie gutaussehend ich sei und dass ich bestimmt bald eine Frau kennenlerne, weil Omas so etwas eben sagen. Meine Therapeutin ist die Person, die mich in den letzten vier Jahren so intim kennengelernt hat wie niemand sonst – und sie sagt mir, dass Menschen da draußen froh sein können, mich zu kennen, dass ich ein guter Freund sei und ein guter Partner wäre. Die Person, der ich bis heute am schonungslosesten und offensten meine Gedanken und Gefühle offenbare, vertraut mir mehr als ich mir selbst – und sagt mir ohne Wenn und Aber, dass ich komplett unabhängig von anderen Personen eine so stabile und gesunde Basis für mich selbst und meine zwischenmenschlichen Beziehungen aufgebaut habe, dass ich bereit sei für alles, was kommt. Letztendlich war das genau das Ziel meiner Therapie. Und sie glaubt, dass ich das Ziel erreicht habe. Sie glaubt ich bin fähig, gesunde Beziehungen zu führen, in denen ich andere Personen nicht für mein Glück, meine Zufriedenheit und die Erfüllung meiner Bedürfnisse verantwortlich mache.

Tief in meinem Herzen glaube ich, nein, weiß ich, dass sie recht hat und ich – vielleicht das erste Mal in meinem Leben – wirklich beziehungsfähig bin.

Aber.

Life’s Hard and Then You Die

It’s Immaterial

Mein Kopf versucht seitdem mich daran zu hindern, diesen Satz wirklich zu glauben, er sucht nach Ambivalenzen, nach Schwachstellen. Einerseits vertraue ich meiner Therapeutin; ich weiß, dass sie so etwas nicht sagen würde, ohne es zu meinen. Andererseits holt mein Kopf ein “Aber” nach dem nächsten hervor und versucht zu verhindern, dass ich es wirklich und bedingungslos glaube und an mich heranlasse. “Aber du kannst dir eh nicht selbst verzeihen.” “Aber du kannst sie nicht loslassen.” “Aber du machst dich angreifbar, wenn du dich öffnest.” “Aber du kannst jederzeit in alte Muster verfallen.” “Aber niemand denkt an dich.” “Aber es ist anstrengend.” “Aber die Leere muss gefüllt werden.”

Anfang vs. Ende

Ich werde nicht zulassen, dass mein Kopf mich jemals wieder so manipulieren und kontrollieren kann. Ich werde diese destruktiven Gedanken nicht gewinnen lassen. Nie wieder. Ich habe mich selbst noch nie so gut gekannt und verstanden wie heute. Ich war noch nie so gefestigt und stark wie heute. Ich war noch nie so beziehungsfähig wie heute. Morgen werde ich mich selbst besser kennen und verstehen. Morgen werde ich noch gefestigter und stärker sein. Irgendwann werde ich mir selbst verzeihen können. Irgendwann werde ich loslassen können. Ich habe noch 50, 60 Jahre vor mir. Mehr als mein halbes Leben. Seit zweieinhalb Jahren bin ich allein, ohne Partnerin. Ich kann warten, ich hab Zeit. Denn auch wenn ich allein bin, bin ich nicht allein. Menschen können sich glücklich schätzen, mich zu kennen. Vielleicht das erste Mal in meinem Leben.

Mein Narzissmus, meine Schuld, meine Heilung und ich

and when nobody wakes you up in the morning, and when nobody waits for you at night, and when you can do whatever you want. what do you call it, freedom or loneliness?

Charles Bukowski

Ein Jahr ohne Beziehung. Ein Jahr ohne romantische Umarmung. Ein Jahr ohne Kuss. Ohne Kuscheln. Ohne Intimität. Ohne Sex. Ohne Date (*). Ohne Dating App. Ein Jahr allein. Seit meiner Jugend war ich – mit kurzen Unterbrechungen – fast ständig in Beziehungen, es gab, seitdem ich 15 Jahre alt war, keine Phase in meinem Leben, in der ich länger als ein paar Monate ohne Freundin oder ohne intime Kontakte war.

Ein Jahr allein, ein Jahr mit mir selbst. Ich vermisse vieles. Jedoch halte ich es aus, anders als zuvor. Denn ich habe mich gefunden und für mich selbst entdeckt, was ich wert bin.

Ich

Guten Tag, mein Name ist Björn und ich bin Narzisst. Also nicht im Sinne von “Haha, ich poste gern Selfies auf Instagram und gucke ständig selbstverliebt in den Spiegel”. Nein, ich habe die tatsächliche Persönlichkeitsstörung. Wie es bei Persönlichkeitsstörungen meistens ist, liegt der Grund dafür in meiner Kindheit. Den als Kind von mir empfundenen Mangel an Aufmerksamkeit, Zuneigung und Raum für meine Bedürfnisse habe ich früh gelernt, unbewusst zu kompensieren und mich so vor Schmerz, Zurückweisung und anderen negativen Empfindungen zu schützen. Ich wurde als Kind nicht für die Person wahrgenommen und akzeptiert, die ich war. Beachtung und Bestätigung bekam ich lediglich für meine Talente geschenkt, für Außergewöhnliches. Das alles und noch viel mehr habe ich in den letzten drei Jahren über mich gelernt. Es ist komplex, es ist kompliziert und es passt nicht mal ansatzweise alles in diesen Text.

Ich habe mich – bis vor etwa drei Jahren – nie hinterfragt, warum ich der Mensch war, der ich war.

Auf der einen Seite der Mann, der (von außen betrachtet und von mir nahezu perfekt dargestellt) mit Selbstbewusstsein, Charme, Intelligenz, Witz, Gesten, Worten und Attraktivität in der Lage war, Menschen, vor allem Frauen für sich zu gewinnen und ihre Bewunderung, Aufmerksamkeit und Bestätigung zu erhalten. Der scheinbar immer souverän, selbstsicher und empathisch in Gesprächen auftrat.

Auf der anderen Seite hielt ich, ohne es zu merken, immer eine Mauer intakt. Niemand durfte mir emotional zu nahe kommen, meine Schwächen durften nicht zutage treten. Kompromisse mussten, wenn es drauf ankommt, die anderen machen, speziell in Partnerschaften. Ich bin zwischenmenschlich verbindenden (Bonding-)Momenten aus dem Weg gegangen, aus Angst, verletzlich und angreifbar zu sein. Ich hatte nie einen richtig engen, besten Freund, niemanden, dem oder der ich wirklich alles sagen konnte bzw. wollte.

In meinen Partnerschaften hat sich der Narzissmus, ohne dass ich es jemals erkannt habe, zusätzlich dadurch gezeigt, dass ich immer dann, wenn ich etwas haben wollte, ich also etwas als mein vermeintliches Anrecht betrachtete, das mir jemand anderes zu erfüllen hat, oft rücksichtslos die Menschen, die ich brauchte, um das zu bekommen, benutzt, manipuliert, belogen und betrogen habe. “Ich bin eben so.” “Ich will, was ich will.” “Ich.” “Ich.” “Ich.” Kompromisse machte ich nur dort, wo es mir nicht wirklich wichtig war oder ich stimmte ihm nur zu, hielt mich aber nicht daran. Ich habe eingefordert, was ich glaubte zu wollen. Ich habe mir genommen, was ich glaubte zu brauchen. Und wer mich nicht so akzeptierte, wie ich bin, mir nicht gab, was ich wollte, hatte Pech gehabt. Ich war jederzeit in der Lage, mir jemanden zu suchen, die mir das erfüllen kann, was ich vermeintlich verdiene.

K.

Im Frühjahr 2013 hatte ich eine dreijährige Beziehung beendet und ein paar Monate lang mit verschiedenen Frauen Sex – immer, wenn mir danach war. Mir war oft danach. Ich mochte es, begehrt zu werden und ich hatte gern Sex. Aber ich erkannte auch, dass es mir nicht reicht. Sex schön und gut, aber ich wollte auch Nähe spüren, Intimität, Vertrautheit. Viel tiefer gingen meine Gedanken nicht. Ich dachte zu dem Zeitpunkt nur, dass ich so nicht weitermachen wollte: Ich wollte nicht mehr in “anstrengenden” Beziehungen sein, ich wollte nicht mehr betrügen und ich wollte auch keinen Sex ohne Gefühle mehr haben.

Ich habe K. im Spätsommer 2013 kennengelernt. Das erste Treffen begann als Twitter-Bekannte, die sich zum Radler trinken verabredet hatten – und statt zwei Stunden plötzlich fast 12 Stunden lang redeten, bis es wieder hell wurde. Das zweite Treffen endete im ersten gemeinsam verbrachten Wochenende. Ich wusste anfangs nicht, was ich genau möchte. Ich wusste nach wie vor nur, was ich nicht will. Mit jedem Tag fühlte ich mich wohler. Aus Tagen wurden Wochen und Monate. Wir harmonierten, es fühlte sich gut an, organisch. Es war einfach. Sie ist intelligent, witzig, kreativ, neugierig, talentiert, freundlich, organisiert, ehrgeizig, fokussiert, unabhängig, kompromissbereit, mitfühlend, nachgiebig, schön. Sie teilt meinen Geschmack in vielen Dingen. Wir unternahmen viel, wir verreisten viel, wir fanden uns anziehend. Wir teilten uns Aufgaben, wir ergänzten uns. Wir passten einfach gut zusammen. Ich hatte in ihr einen Menschen gefunden, bei dem ich das erste Mal in meinem Leben keine Exit-Strategie mehr hatte. Ich war mit ihr, um zu bleiben. Ich wollte sie, ich wollte uns.

Ich habe sie immer wieder betrogen. Jahrelang. Mit verschiedenen Frauen.

Unsere (erste) Trennung 2019 ging von mir aus. Ich wollte mehr, ich betrachtete es als mein Anrecht, mehr zu bekommen, als sie bereit war mir zu geben. Ich forderte, ich drängte. Sie sollte mich so nehmen, wie ich bin und mir geben, was ich will. Ich gab ihr das Gefühl, nicht genug zu sein. Es ging nur um mich. Quasi noch am Tag der Trennung wusste ich, dass ich nicht von ihr getrennt sein möchte. Ich erkannte wie schon ein paar Jahre zuvor, dass ich nicht mehr so sein möchte, nicht mehr so weitermachen will. Viel mehr erkannte ich nicht.

Sie war es, die mich dazu ermutigte, eine Therapie zu machen. Sie war es, die mich weiterhin unterstützt hat, auch nachdem sie vom jahrelangen Lügen, von den Manipulationen und vom Betrügen erfahren hatte. Erst in Freundschaft, etwas später wieder als Partnerin. Für sie wollte ich ein besserer Mensch werden, für sie wollte ich die Therapie machen, für sie und für unsere Beziehung. Und mit dieser Motivation habe ich die Therapie begonnen. Ich betrachtete es anfangs wie ein Trainingslager: In jeder Sitzung würde ich ein Problem durchsprechen, es verstehen, daran arbeiten und es abhaken – eines nach dem anderen. Am Ende bin ich automatisch ein besserer Mensch und ich habe die Beziehung mit meinem Menschen gerettet.

Spoiler Alert: So funktionieren Therapien nicht und die Motivation dahinter ist auch die falsche.

40

You know nothing, Jon Snow.

Ygritte

Die Therapie zu beginnen, ganz unabhängig von meiner Ahnungslosigkeit, war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Wenige Wochen vor meiner ersten Therapiesitzung war ich 40 geworden. Heute weiß ich, dass ich an meinem 40. Geburtstag keine Ahnung hatte, wer ich bin, warum ich so bin, wie man fühlt, wie sich Gefühle und Empfindungen körperlich äußern, wie man sich und seine Bedürfnisse erkennt, wie man rücksichtsvoll mit sich selbst umgeht, wie man sich selbst liebt, wie man mit anderen Menschen mitfühlt.

Ich war 40 Jahre alt, ich fühlte mich depressiv, ich wusste nichts und ich wusste nicht, dass ich nichts wusste.

Nicht lange nach dem Beginn der Therapie zu erfahren, dass ich die narzisstische Störung habe, hat mich tief getroffen. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Ich las über die Störung, ich schaute Videos, ich hörte Podcasts. Und das, was ich erfuhr, war niederschmetternd und gleichzeitig unfassbar augenöffnend. Es war, als würden diese Artikel, Berichte, Interviews, Podcasts über mich reden, als kannten sie meine innersten, selbst mir unbekannten Gedanken, Gefühle und Erinnerungen. Und es wurde noch schlimmer: Überall las ich, dass diese Störung nicht heilbar ist. Kein Gips, keine Reha, keine Medikamente können Narzissmus wegmachen. Oft wurde gesagt, dass Partner:innen von Narzissten sich trennen sollen, weil sie sonst zerbrechen und es unerträglich wird.

Ich dachte kurz daran, aber ich gab nicht auf. Ich akzeptierte die Diagnose und machte weiter. Es war ein wenig wie “Challenge accepted”. Ein Teil in mir wollte nun beweisen, dass diese Leute unrecht hatten. Und meine Beziehung wollte ich weiterhin retten.

K. zog aus. Ich blieb in unserer Wohnung und ging weiter zur Therapie. Wir versuchten es erneut. Sie versuchte es erneut. Und gemeinsam gingen wir zu einer Paarberatung. Aber mein Willen, meine Motivation, es für die Beziehung zu schaffen, waren nicht genug. Ich wusste es nicht, aber ich war nicht so weit. Die vielen bis dahin noch unentdeckten Puzzleteile, meine immer wieder alles dominierenden Impulse und das permanente Abladen meiner Bedürfnisse auf ihre Schultern waren zu viel. Ich war nach wie vor fordernd, drängend, einnehmend, viel zu oft nur auf mich und meine vermeintlichen Bedürfnisse fokussiert. Ich wurde getrieben und kontrolliert durch mein inneres Kind. Sie trennte sich.

Das ist jetzt ein Jahr her.

Fake it till you make it

Und so stand ich da, wollte uns und die Beziehung immer noch nicht aufgeben. Und immer noch hatte ich es nicht kapiert. Ich wollte uns retten, aber ich war nicht mal in der Lage, mich selbst zu retten. Ich hielt mich selbst nicht aus, konnte kaum mit mir, sowie meinen Gedanken und Gefühlen allein sein. Ich konnte mir selbst keine Freude schenken, mich nicht selbst zufrieden machen. Ich hatte keine Nachsicht mit mir, kein Einfühlungsvermögen für mich selbst. Und nichts davon hatte ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt erkannt.

Es passierte nicht von heute auf morgen. Und nicht kontinuierlich. Es begann mit viel Aktionismus. Hier allein wandern, da allein in eine Ausstellung, dort allein spazieren gehen. Fake it till you make it. Die nächste Ausstellung allein. Der nächste Spaziergang. Mit einem Freund essen gehen. Eine Radtour machen. Eine Freundin zum Kochen einladen. Mit Freunden Skat spielen. Kino. Mehr Kino. Sport. Mehr Sport. Viel mehr Sport. Allein ins Museum. Ich habe minutiös meine Freizeit geplant und mit Aktivitäten befüllt. Anfangs als Eskapismus, dann Stück für Stück immer mehr, weil es gut war, weil es mir gut tat. Ich habe immer wieder in mich hineingehört: Wie geht es mir gerade? Ja, klar, mit ihr wäre es hier schöner. Aber habe ich nicht vielleicht auch gerade etwas Freude allein? Macht es nicht vielleicht auch allein ein wenig Spaß? Es kam schleichend. Aber das gute Gefühl blieb. Ich musste immer weniger faken, es kam immer mehr tatsächliches Interesse. Die Struktur tat mir gut. Die Routinen gaben mir Halt. Die Impulse ließen in ihrer Intensität nach, es wurde immer leichter, sie wohlwollend wahrzunehmen und auszuhalten. Die Tiefs kamen seltener. Ich war kaum noch einsam, obwohl ich oft allein war. Ich wurde stärker. Ich wuchs. Ich heilte. Ich hielt mich.

Es war der größte Durchbruch. Das erste Mal in meinem Leben tat ich es hauptsächlich für mich. Ich war gut zu mir und es tat mir gut.

Ich verbrachte mehr Zeit mit Freunden, ich verlor die Angst davor, ihnen zu viel zu sein, von ihnen zurückgewiesen zu werden, nicht ich selbst sein zu können. Ich empfinde viel Dankbarkeit für die Menschen, mit denen ich speziell innerhalb des vergangenen Jahres eine vertraute zwischenmenschliche Beziehung aufbauen bzw. halten konnte. Ich lerne, dass Freundschaften nicht transaktional sind, dass es ein Geben und Nehmen ist, ohne Erwartung einer Gegenleistung. Ich lerne, dass ich keine Angst vor Zurückweisung haben muss, wenn ich den freundschaftlichen Kontakt suche. Ich lerne, dass mich Freund:innen nicht vergessen, nur weil wir gerade keinen Kontakt haben. Ich lerne, mich nicht zurückgewiesen zu fühlen, wenn jemand keine Zeit für mich hat. Ich lerne, dass Freund:innen mich und meine Freundschaft schätzen, dass sie gern Zeit mit mir verbringen, dass sie mich mögen.

Fühlen

Innerhalb des letzten Jahres habe ich erkannt und verstanden, dass ich in den vergangenen ca. 20 Jahren viele lebensverändernde Entscheidungen nicht als rational denkender und bewusst fühlender Erwachsener getroffen habe, sondern sie unbewusst bestimmt waren durch mein inneres Kind und seine Bedürfnisse und Impulse. Jahrzehntelang hat mein inneres Kind, das damals nicht genug Aufmerksamkeit, Bestätigung, Zuneigung und Raum bekommen hat, mein Leben als Erwachsener dominiert. Ich habe diese Aufmerksamkeit, Bestätigung und den Raum eingefordert, ohne Rücksicht auf andere Menschen. Ich habe, diesen Impulsen folgend, Beziehungen beendet und begonnen, sowie innerhalb von Beziehungen betrogen. Ich habe ausschließlich “im Außen” gesucht und war davon abhängig, bis hin zur Obsession, dass andere Personen mir ihre Aufmerksamkeit schenken müssen, mich priorisieren, mir alle meine Bedürfnisse erfüllen. Immer, wenn ich es brauche.

Ich habe diese Impulse und Obsessionen erst wirklich erkannt und verstanden, als mir durch die Trennung meine Bezugsperson entzogen wurde und ich mich aktiv dafür entschieden habe, diese Leere und den Schmerz nicht durch beliebigen und austauschbaren Ersatz zu betäuben. Im Moment des Entzugs lüftete sich der Schleier und ich konnte es zum ersten Mal klar erkennen.

your immediate reaction does not tell you who you are, it is how you decide to respond after the reaction that gives you real insight into how much you have grown.

your first reaction is your past,
your intentional response is your present

yung pueblo

Was blieb, war ich – und wie ich gelernt habe, meine Bedürfnisse, meinen Schmerz, meine Einsamkeit, die Leere bewusst wahrzunehmen, sie zuzulassen, sie zu verstehen, sie auszuhalten und erst dann bewusst zu entscheiden, wie ich damit umgehe. Hatte bis zu diesem Punkt in meinem Leben mein inneres Kind und seine Impulse meist die Kontrolle über meine Handlungen, war dies der Moment, in dem ich wirklich die Kontrolle übernommen habe. Ich konnte fühlen, wenn die narzisstischen Impulse aufkommen, ich verstand besser, was sie für körperliche Reaktionen auslösen, ich konnte erkennen, wie ich zuvor auf sie reagiert habe und ich, der erwachsene Mensch, war nun in der Lage, mich bewusst zu entscheiden, wie ich mit diesen Impulsen umgehen würde.

Es ist für mich bis heute keine Selbstverständlichkeit, in mich hineinzufühlen bzw. die Gefühle zuzulassen und sie nicht zu unterdrücken. Ich falle nach wie vor oft zurück ins Analytische, ins Beschreiben meiner Gedanken, ins Logische. Das fällt mir leicht. Mir fehlt an vielen Stellen das Vokabular für Empfindungen und Gefühle. Ich lerne weiterhin schrittweise, mich zu öffnen. Und ich lerne, wie sich Gefühle wie Einsamkeit, Kränkung, Eifersucht, Angst, Dankbarkeit oder Liebe körperlich äußern. Empathie kann ich nur lernen, wenn ich mich und meine eigenen Gefühle erkenne.

Nie wieder

Mir ist erst im Nachhinein wirklich bewusst geworden, wie unbefriedigend es für mich so oft war, kurzfristige Bestätigung, kurzfristige (sexuelle) Befriedigung und kurzfristige Aufmerksamkeit von für mich mehr oder weniger austauschbaren Frauen zu erhalten, die ich unbewusst wie Objekte benutzte. Nicht selten habe ich währenddessen gespürt, aber unterdrückt, dass ich mich gar nicht wohl fühle mit dem, was ich gerade tue, dass es mir nichts bringt.

Ich bin fertig damit. Ich werde so etwas nie wieder tun.

Und ich werde weiter daran arbeiten, diese Entscheidung nachträglich nicht nur für mich selbst, sondern auch aus Rücksicht, aus Empathie gegenüber den involvierten Personen getroffen zu haben. Nie wieder werde ich innerhalb einer Partnerschaft betrügen. Nie wieder werde ich Frauen zur Befriedigung meiner narzisstischen Bedürfnisse benutzen.

Verantwortung

Ich kann nicht ungeschehen machen, was ich getan habe. Ich kann den Schaden, den ich durch das Betrügen, Belügen und Manipulieren angerichtet habe, nicht verschwinden lassen. Ich kann nicht annähernd angemessen nachfühlen, welchen Schaden ich angerichtet habe. Ich kann nur Verantwortung übernehmen, mich dem stellen, was ich getan habe, versuchen nachzufühlen und für mich die Konsequenzen aus allem ziehen. Ich verstecke mich nicht hinter meiner Störung, hinter meinem inneren Kind, hinter meiner Kindheit. Ich habe betrogen und manipuliert. Ich bin verantwortlich.

Ich werde niemals kein Narzisst sein, es ist nicht heilbar. Und dennoch heile ich. Ich habe verstanden und akzeptiert, dass ich immer narzisstische Impulse haben werde. Das ist ok. Es ist ein Teil von mir. Es wird immer wieder Momente geben, in denen ich die narzisstischen Bedürfnisse meines inneren Kindes spüren werde. Ich habe verstanden, dass Heilung bedeuten kann, mit der Störung bewusst umzugehen, sich nicht davon steuern und treiben zu lassen.

Realität

Ich habe meinen Menschen verloren und konnte meine Beziehung nicht retten. Ich werde sie und uns für immer vermissen. Und darüber werde ich immer traurig sein.

Ich bin noch nicht bereit, mich von der Beziehung zu verabschieden. Ich bin noch nicht bereit für Akzeptanz, ich akzeptiere diese eine Realität nicht. Es gibt keinen Anlass zur Hoffnung, trotzdem hoffe ich noch immer. Auch meine Freunde konnten mich bisher nicht von der Realität überzeugen. Ich bin nicht bereit loszulassen. Und das ist ok. Ich halte es aus. Ich weiß noch nicht, wann der Moment kommt, an dem ich loslassen werde, ob morgen, in drei Monaten, in einem Jahr, in fünf Jahren, ob er überhaupt kommen wird. Ich weiß nicht, wie der Moment sich anfühlen wird, was ihn auslösen wird, was danach kommt. Ich weiß nur, dass ich mittlerweile stark genug bin. Ich werde daran nicht zerbrechen.

Danach

Seit einem Jahr bin ich allein, ohne Partnerin, ohne Intimität, ohne körperliche Nähe. Ich vermisse es. Sie. Aber ich halte es aus und es geht mir gut. Allein sein, keine Partnerin haben, keinen Sex haben, ist für mich keine Bedrohung mehr.

In wenigen Wochen werde ich meine Therapie beenden, nach etwa drei Jahren und etwa 120 Sitzungen. Die Therapie war mein wichtigster Anker über mehr als zwei Jahre, der Fixpunkt jeder Woche, ständiger Begleiter in meinem Alltag. Innerhalb des vergangenen Jahres ist die Dringlichkeit Schritt für Schritt kleiner geworden. Ich habe immer besser gelernt, selbst zu schwimmen und musste mich nicht mehr ständig am Rettungsring festhalten. Ich bin stolz darauf und ich bin stolz auf mich. Der Abschied von der Therapie, das Loslassen dieser zwischenmenschlichen Beziehung wird dennoch schwer sein. Ich habe noch viel zu lernen, vermutlich dann allein. Ich bin darauf vorbereitet. Ich bin mittlerweile auch stark genug dafür.